Japan: Sozialhilfeempfänger in Osaka haben andere Sorgen als Strahlenbelastung

Die 2,7 Millionen Einwohner Stadt Osaka ist im Gegensatz zu anderen Gebieten Japans von der Natur und Reaktorkatastrophe relativ glimpflich davon gekommen. Die Bewohner des Stadtteils Kamagasaki haben aber oft ganz andere Sorgen als Strahlenbelastung und Evakuierung. Sie kämpfen als Sozialhilfeempfänger um das tägliche Überleben. Eine Schale Reis und eine saure Pflaume pro Tag ist für manchen Bewohner des Viertels oft die einzige Nahrung. Durch die dramatischen Auswirkungen der Natur und Reaktorkatastrophe wird sich ihre Situation aber eher verschlechtern als verbessern. Nun hat der Staat neben den zahlreichen Sozialhilfeempfängern auch die unzähligen Opfer der Katastrophe zu versorgen. Ein Kraftakt der nur schwer zu bewältigen zu sein wird. Die japanische Tageszeitung Asahi Shinbun berichtet vom Alltagsleben der Ärmsten in Osaka.

Von Tagelöhnern zu Sozialhilfeempfängern – Der Stadtteil Kamagasaki in Osaka verändert sich

Die landesweiten Ausgaben für die Sozialhilfe haben die 3 Billionen Yen-Marke überschritten. Im Stadtteil Kamagasaki, der als Hochburg der Tagelöhner bekannt ist, bezieht mittlerweile jeder Dritte Hilfe vom Staat. Wo früher die Kaufkraft der Arbeiter mit den sprichwörtlichen „100 Millionen pro Tag“ das Stadtbild prägte, regiert nun das Sozialgeld die Welt, und verändert das Viertel.

Wucherergasse. Diesen Namen trägt eine von Mietshäusern und Mehrzweckbauten gesäumte Nebenstraße in Kamagasaki. Handelsgesellschaft XY, Planungsbüro YZ – so heißen die illegalen Kreditgewerbe in den Geschäftslokalen des Erdgeschosses. Normalerweise ist hier nichts los, nur am Auszahlungstag der Sozialhilfe herrscht ein reges Kommen und Gehen.

Im November letzten Jahres betraten drei Mitarbeiter des „Ginko-Vereins“, einer Schuldnerberatung aus Osaka, eines der Ladenlokale. „Einer Ihrer Kunden hat uns um Hilfe gebeten.“ Ein grauhaariger älterer Herr kommt aus dem hinteren Teil des Raumes, wo ein Shinto-Hausschrein steht, an die Ladentheke und fragt murrend: „Warum kommt er nicht selbst?“

Der „Kunde“ ist ein 77jähriger Sozialhilfeempfänger, der in der Nähe in einem baufälligen Nachkriegs-Mietshaus lebt. Als Garantie für einen Kredit musste er die Karte seines Kontos hinterlegen, auf welches die Sozialhilfe überwiesen wird. Im Sommer 2009 hatte ihn die Inhaberin einer Kneipe um Geld angefleht. Daraufhin hatte er sich von einem Wucherer 50.000 Yen geliehen, um ihr auszuhelfen. Der Zinssatz lag mit 10% alle 10 Tage deutlich über dem gesetzlichen Jahreshöchstsatz von 20%. Jeweils am Monatsende, wenn die 120.000 Yen (ca. 1.000 Euro) Sozialhilfe eingingen, händigte der Wucherer ihm die Kontokarte aus. Er hob das gesamte Geld ab, und gab die Karte sowie 15.000 Yen Zinsen an den Gläubiger zurück.

Nachdem er bei einem weiteren Wucherer Schulden gemacht hatte, blieben monatlich nach Abzug von Miete und Zinsen nur 50.000 Yen. Zu wenig, um das geliehene Kapital zurückzuzahlen. Er beschränkte seine Mahlzeiten auf eine Schale Reis und eine saure Pflaume pro Tag. Sein Gewicht fiel von 55 Kilo vor zwei Jahren auf 38. Als er es nicht mehr aushielt, wandte er sich an den „Ginko-Verein“.

Als die Mitarbeiter den Wucherer auf die Illegalität seines Gewerbes hinweisen, erklärt er sich zu einer „gütlichen Einigung“ bereit, bei der er auf sämtliche Forderungen verzichtet. Dem Reporter der Asahi-Shinbun gegenüber beschwert er sich: „Weil er kein Geld mehr hatte, habe ich ihm eben etwas geliehen. Wir sind ja so etwas wie das Sicherheitsventil für die Sozialhilfeempfänger.“ Der von seiner Last befreite Schuldner zeigte sich erleichtert.

Zu den wöchentlich in Kamagasaki abgehaltenen Sprechstunden des Vereins kommen jeweils mehrere Beratungsbedürftige. Immer häufiger haben Sozialhilfeempfänger Schulden bei Wucherern. Spricht man Leute auf der Straße an, so befinden sich einige in der selben Situation. Viele verspielen die Hilfe vom Staat und müssen dann Kredite aufnehmen. Ein 79-Jähriger der monatliche Zinszahlungen von zigtausend Yen leisten muss, bereut sein Handeln und meint „Da komme ich nie wieder raus.“

Takeshi Ikuta, Leiter des „Netzwerks für Obdachlose“ erklärt: „Viele Tagelöhner haben nur für die Arbeit gelebt. Nun da sie von Sozialhilfe leben, wissen sie nichts mehr mit sich anzufangen und verfallen der Spielsucht. Das ist ein gefundenes Fressen für die Kredithaie.“ Früher behielten die Wucherer ein weißes Büchlein als Pfand ein, das „Versichertenheft für Tagelöhner“, das Letztere vorzeigen mussten, um einen Zuschuss zu erhalten, wenn sie keine Arbeit fanden. Heute dient die Kontokarte des Sozialhilfeempfängers als Garantie.

Den Tag, an dem zum Monatsende die Sozialhilfe überwiesen wird, bezeichnen die Bewohner von Kamagasaki als „Zahltag“. Am Morgen des 31. Januar sind auf der Hauptverkehrsader des Viertels dreimal so viele Passanten zu sehen wie sonst, und an den Geldautomaten der Minisupermärkte haben sich langen Schlangen gebildet. „An diesem Tag haben wir 30-40% mehr Gäste als gewöhnlich,“ erklärt der etwa 70jährige Wirt einer Kneipe, der seinen Laden schon ab morgens geöffnet hat. Der Großteil seiner Stammgäste lebt von Sozialhilfe und lässt ab Monatsmitte anschreiben. Mit den Worten „Bezahl‘ wenn das Wohlfahrtsgeld kommt,“ stellt der Wirt ihnen den Schnaps hin.

Die Inhaberin (75) eines Restaurants, das Reis mit Currysoße oder gekochtem Schweinefleisch anbietet, berichtet: „Seit einigen Jahren ist mein Umsatz um die Hälfte zurückgegangen“. Letztes Jahr haben die Steh- und Sitzkneipen der Nachbarschaft eine nach der anderen geschlossen. „Auch ich denke drüber nach“, so die Wirtin. Nach Angaben der Stadt Osaka ist die Zahl der Gastronomiebetriebe in Kamagasaki von 545 im März 2004 auf 475 im Oktober 2010 gesunken.

Um fünf Uhr morgens drängen sich an der Beilagentheke eines rund um die Uhr geöffneten Supermarktes über zwanzig Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters. Die Gemüsebeilagen (ca. 100 Yen) und Lunchboxen (ca. 300 Yen) vom Vortag werden nun zum halben Preis verkauft. Neben dem Mitarbeiter, der „-50%“-Aufkleber auf die einzelnen Plastikkartons klebt, bildet sich eine Schlange.

Ein Sechzigjähriger der für 800 Yen Einkäufe getätigt hat, gibt an, dreimal pro Woche hier auf Vorrat zu kaufen. Früher hat er als Eisenflechter gearbeitet, bis sich im Herbst letzten Jahres die Hüfte verletzte. Seitdem bekommt er Sozialhilfe. Für Essen hat er etwa 20.000 Yen im Monat zur Verfügung. „Ich kann nicht mehr wie früher in die Kneipe gehen. Heute ist es meine einzige Freude, vor dem Fernseher zu sitzen und Billig-Bier zu trinken.“ Der Winter nimmt seinen Lauf in einem von Nesthockern bevölkerten Viertel.

Kamagasaki und die Sozialhilfe: Nach Angaben des Ministeriums für Gesundheit und Arbeit war die Zahl der Haushalte, die Sozialhilfe bezogen, im Oktober 2010 mit 1,41 Millionen so hoch wie nie zuvor. Insgesamt wurden im Fiskaljahr 2009 3,72 Billionen Yen für die Sozialhilfe ausgegeben. Im Viertel Kamagasaki im Bezirk Nishinari in Osaka (auch Airin-Viertel) steigt die Zahl der Sozialhilfeempfänger rasant, da die in den 70er Jahren zur Zeit der Weltausstellung in Scharen nach Osaka gezogenen Tagelöhner das Rentenalter erreichen und es immer weniger Arbeit gibt. Mit ca. 9.000 sind es derzeit dreimal so viele wie noch im Jahr 2000. In Kamagasaki leben ca. 25.000 Menschen. Jeder Dritte bezieht Sozialhilfe.

Bilder: © Stanislav Komogorov | Dreamstime.com